Der Sänger, Podcaster und Instagram-Poet schreibt über Familie, die Liebe, Trauma, Trauer und Tod: ein wundervolles, tief berührendes Debüt.

Berlin (dani) – Max Richard Leßmann ist Sänger, er sang einst bei Vierkanttretlager, dann solo, beides sehr weit abseits von meinen musikalischen Präferenzen. Er podcastet irgendwas, das tun ja eigentlich alle und ich ignoriere es weitgehend, ist einfach nicht mein Medium. Außerdem veröffentlicht er Gedichte via Instagram, die ich teils ganz süß, teils komplett banane finde. Hier endet mein beschränktes Leßmann-Wissen auch schon.

Schlichtweg eine faszinierende Erfahrung, dass dieser Mann mit „Sylter Welle“ (Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, gebunden, 22 Euro) nun einen Roman geschrieben hat, nach dessen Lektüre ich mir vollkommen mühelos einbilden kann, den Autor zu kennen. Nicht nur auf diese Jaok-den Namen-mal-irgendwo-gehört-Art, sondern schon ewig. So, wie man jemanden kennt, mit dem man große Teile seiner Vergangenheit geteilt hat. Jemanden, mit dem man an einem Tag, an dem man nichts anderes mehr vor- und deswegen reichlich Zeit hat, auch bei mittelgutem Wetter einen endlosen Strandspaziergang unternehmen würde, und in dessen Verlauf glitscht die Unterhaltung unmerklich von alltäglichem Kleckerkram zu den intimen Themen über, die uns tief drinnen doch alle irgendwie umtreiben: Familie, die Liebe, Trauma, Trauer und Tod.

Urlaub mit Oma und Opa

Genau so funktioniert dieser autobiografisch gestrickte Roman nämlich: Er lässt sich Zeit, beginnt im völlig Trivialen: Der Erzähler lädt seine Leser*innenschaft dazu ein, ihn auf einer Reise, der Titel lässt es ahnen, nach Sylt zu begleiten, wo er ein paar Urlaubstage in Gesellschaft seiner Großeltern zu verbringen plant. Die schildert Leßmann dann, wieder und wieder unterbrochen von Rückblenden und Erinnerungen an zurückliegende Kindheitsurlaube, ebenfalls zusammen mit Oma und Opa. Das alles, umhüllt vom allgegenwärtigen Hauch der Vergänglichkeit, beschreibt er detailgenau und liebevoll.

Wie glitzernde Silberfäden durchziehen Nostalgie, Melancholie und eine gewisse Traurigkeit die Schilderungen, allerdings in derart homöopathischer Dosierung, dass die Erzählung nie ihren federleicht schwebenden Charakter verliert. Ohne es wirklich zu merken, habe ich knapp zwei Drittel des Buches schon verschluckt, als mich zum ersten Mal ein nörgelnder Gedanke anspringt: „Ehrlich? Schlieren in der Margarine und ein Badeunfall – DAS ist die Tragik deines Lebens?“ Die Schlussfolgerung („Das ist ja schon ein bisschen läppisch …“) bekomme ich gar nicht mehr richtig zuende gedacht. Wie auf Kommando öffnet Leßmann nämlich just an diesem Punkt alle Weckgläser mit dem Eingemachten.

Urplötzlich geht einem auf, wovon dieses Buch wirklich handelt: von erlittenen und bevorstehenden Verlusten. Von der Einsamkeit, die die Träger*innen von über Jahre und Jahrzehnte gewahrten Familiengeheimnissen umwabert. Von den Kratern, die der Tod in die Herzen und Seelen von Menschen und in ihre Familien schlägt. Von den hilflosen Strategien, mit der die Zurückgelassenen versuchen, die klaffenden Löcher notdürftig zu stopfen, oder wenigstens irgendwie zuzudecken, um nicht selbst hineinzustürzen, natürlich vergebens.

Vor allem erzählt „Sylter Welle“ von der großen Sprachlosigkeit, die unsere Eltern- und Großelterngenerationen noch viel, viel fester im Würgegriff hatte als die Spätergeborenen. Die gelangen – zum Glück – mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass man nicht alles mit sich selbst abmachen kann, dass man das auch gar nicht muss, weil es weder eine Schande noch persönliches Versagen bedeutet, sich Hilfe zu suchen.

Die nackte Wahrheit

Nur jemand, der sie an Leib und Seele erfahren hat, kann die Trauer um verlorene Familienmitglieder so beschreiben, wie Max Richard Leßmann das tut. So jemand weiß nämlich, dass es keine hohle Phrase oder banale Floskel ist, sondern die bis auf die Knochen nackte Wahrheit, wenn er schreibt: „Dafür, was man sagt, wenn jemand stirbt, den man lieb hatte, hat die Menschheit noch keine passende Lösung gefunden, jedenfalls keine, von der ich jemals gehört hätte.

Leßmann tut so, als erzähle er seine Biografie einfach so dahin. Dabei analysiert „Sylter Welle“ ungemein klarsichtig die Dynamiken zerfetzter Familiengefüge, die Bemühungen, rund um die Löcher eine neue „Normalität“ zu weben, obwohl nichts jemals wieder sein wird, jemals wieder sein kann wie vorher. Zumal der nächste Abschied schon überdeutlich am Horizont heraufdämmert: Oppa Ludwig ist offenkundig auch nicht mehr in bester Verfassung.

Wundervolles Debüt

Natürlich ist das Gefühl von Intimität und Vertrautheit eine Illusion. Ich kenne Max Richard Leßmann selbstverständlich noch immer nicht. Die schlichte Tatsache aber, dass ich glaube, haargenau zu wissen, wie es sich angefühlt hat, in der einen oder anderen sehr, sehr ähnlich erlebten Situation in der Haut seines Protagonisten zu stecken, hält aber schon ein äußerst beredtes Plädoyer für die gebotene literarische Qualität. Ein wundervolles, zutiefst berührendes Buch, und mit das Beste daran: Das war erst das Debüt.

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Max Richard Leßmann – „Sylter Welle“*

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